Klaus Redlich, Ralf Grawe
Qualverwandt
oder Wenn der Pfleger zweimal klingelt
2001, DV, Farbe, 78 Min.
Regie, Buch, Schnitt, Produktion: Lothar Lambert. Kamera, Co-Schnitt, CineStream-Operator: Albert Kittler.
Darsteller: Michael Sittner, Carl Andersen, Heiko Behrens, Dennis Buczma, Harald Eberhard, Eva Ebner, Ralf Grawe, Frank M. Jork, Isolde Josipovici, Guido Kliebenstein, Farshad Matin, Christiane Nalezinski, Hilka Neuhof, Erika Rabau, Klaus Redlich, Ulrike S., Renate Soleymany, Nilgün Taifun, Daniela Ziemann.
Kurzinhalt
Ein junger Mann mit rechtsextremen Tendenzen beginnt eine Tätigkeit als Hauskrankenpfleger für verwirrte oder anderweitig psychisch beladene Menschen jeden Alters. Neben den Sorgen mit den Patienten plagt ihn der Ärger mit seiner Ex-Frau, die verhindern will, daß er den gemeinsamen Sohn sieht, sowie mit seinem ehemaligen Zellengenossen aus dem Gefängnis, der versucht, sich neuerlich mit krummen Touren durchzuschlagen.
Inhalt (ENTHÄLT SPOILER)
Vorspruch: „Die Erinnerungen verschönen das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich. Balzac“
Ein dicker Mann ohne Hose gießt eine Pflanze, setzt sich dann auf seinen Balkon, blättert einen Stapel Hefte „Mystery Thriller“ durch und stellt fest, daß er diese alle schon kennt. Beginn des Vorspanns. Mit eingeschäumtem Schädel geht er in die Küche, gießt Bier in ein Glas, geht ins Badezimmer und rasiert sich den Kopf. In einem Büro wird er von einem Mann gefragt, ob er bereits Erfahrung in der psychosozialen Betreuung habe. Er erklärt, er habe seine Tante gepflegt. Eine Frau erkundigt sich nach seinem „richtigen Beruf“: Lkw-Fahrer. [weiter]
Lothar Lambert erinnert sich (2010)
Daß Michael Sittner hier einen Mann mit rechten Tendenzen spielt, gehört zu den Sachen, die sich einfach aus der Konstellation der Figuren ergeben. Es reicht ja nicht, daß die Figur nur dick ist, sondern die muß ja auch ein paar Eigenschaften haben. Michael hatte in relativ kurzer Zeit seine Löckchen ab- und deutlich Gewicht zugelegt. Aber die Löckchen waren schon vor den Dreharbeiten ab gewesen. Das war nicht meine Idee, sondern ich habe es, wie üblich, genommen, wie’s kam. Es ist nur blöd, wenn sich die Dreharbeiten lange hinziehen, und Leute entscheiden plötzlich, sich sehr zu verändern – die denken dann natürlich nicht an szenische Anschlüsse. Das kann Probleme geben, aber ich habe es auch immer irgendwie funktionalisiert.
Statt eines windigen Filmemachers spielte Carl Andersen diesmal einen versoffenen Ex-Filmemacher. Carl sagt ja immer zu solchen Rollenzumutungen, daß er den Schutz der Rolle hat. Daß es ihm deshalb nichts ausmacht, sowas zu spielen. Find ich ja mutig von ihm. Aber er ist auch nicht sofort locker vor der Kamera, hat auch Angst vor ihr. Der Ausschnitt aus dem Film des delirierenden Regisseurs, der in „Qualverwandt“ zu sehen ist, ist aus „Mondo Weirdo“, Carls bestem Opus. Und schön ist doch, als die Journalistin, der er nachher die Füße leckt, ihn interviewt und seine Filme aufzählt: „Schleier ade, Scheiden tut weh“ – „Nein, nein, Scheide tut weh!“ Der Titel ist natürlich von mir, aber leider nur als Film-im-Film-Gag zu verwenden.
In der Szene, wo Nilgün Taifun die Scheiben putzt und sie einen ihrer typischen Monologe hat, mußte gar keiner zuhören. Ich hab ihr nur gesagt: Stell dir vor, Michael sitzt da. Ich hab ihn dann nachher in die Szene reingeschnitten. Offenbar ganz geschickt, denn von Zuschauern habe ich gehört, daß sie denken, er saß wirklich Nilgün gegenüber.
Renate Soleymany trat in „Qualverwandt“ zum letzten Mal bei mir auf. Sie ist danach ziemlich gebrechlich geworden. Sie will auch nicht mehr. Lust zu spielen hatte sie sowieso nie gehabt. Sie mußte immer irgendwie überredet werden. Sie hatte ja auch immer wieder psychische Probleme, und man hatte manchmal das Gefühl: Wenn sie jetzt zustimmt, tut’s ihr morgen leid. Früher hat sie immer gedacht, man nimmt sie nur, weil sie einen Riesenbusen hat. Den hat sie irgendwann nicht mehr gehabt, aber ich bin ihr als Regisseur treugeblieben. Ich habe gesagt: Das hängt nicht davon ab, du bist einfach ein guter Typ. Es geht mir nicht um den Riesenbusen – deine Stimme, dein Gesicht, das ist toll irgendwie. Aber daß sie davon überzeugt ist, glaub ich nicht.
Guido Kliebenstein, der Sohn meiner Cousine, tritt hier noch einmal auf als Sohn von Michael Sittner. In „Gut drauf, schlecht dran“ war er ja mit seiner Mutter am Grab von Marlene zu sehen gewesen. Ich könnte ihn natürlich mal wieder bitten, mitzuspielen, inzwischen ist er Mitte zwanzig. Aber man sieht sich zu selten, man kaspert nicht zusammen irgendwelche Geschichten aus. Und junge Leute interessieren mich auch eigentlich nicht. In die Probleme von jungen Leuten kann ich mich schwer hineinversetzen. Die Jüngeren könnten zwar den Älteren in einer Filmhandlung dramaturgisch ergiebige Probleme machen, aber die Jüngeren sind bei mir heute eben vierzig. In meinem neuesten Film „Zurück im tiefen Tal der Therapierten“ hat Hilka Neuhof den Wahn, daß sie eigentlich das Baby ihrer Kinder ist. Zum Schluß liegt sie da und sagt zu ihrem Sohn, der als ihre Tochter erscheint: „Mama, Mama!“ Das ist dann die hundertprozentige Regression.
Daniela Ziemann ist eine Freundin von Christiane Nalezinski und, wie man in „Ich bin, Gott sei Dank, beim Film!“ auch erfährt, die Nichte von Sonja Ziemann. Sie hat viele Jahre lang mit ihrer Tante Tourneetheater gespielt und ist durch die ganze Republik getingelt. Sie ist auch so jemand, den ich sehr mag, der aber darstellerisch schwer zu fassen ist. Sie paßt nicht so ganz in mein Undergroundkino. Sie war sehr temperamentvoll in „Qualverwandt“, wo sie als Michaels Ex an der Tür schimpfen konnte. Aber als Psychiaterin in „Aus dem Tagebuch eines Sex-Moppels“ agierte sie eher unengagiert. Sie signalisiert auch nicht, daß sie wild darauf ist zu spielen.
Wenn jemand am Ende des Films denken sollte, die Dreharbeiten wären wegen des 11. September 2001 abgebrochen oder verkürzt worden, liegt er falsch. Natürlich hatten die Anschläge nachhaltige Auswirkungen auf meine Stimmung, das wollte ich unterbringen. Aber für die Szene mit Erika Rabau sind sie natürlich ein Glücksfall gewesen. Denn das kommt ja ihrer eigenen seelischen Disposition entgegen: auf der Flucht sein, Angst haben.
Kritische Anmerkungen